07 / 10 / 2020 in Recruiting-Tipps
Der Lügendetektor 2.0 im Video-Interview
Stellen Sie sich vor, eine Maschine nimmt Sie bei Ihrem nächsten Bewerbungsgespräch genau unter die Lupe. Und zwar besser, als ein Lügendetektor es je könnte. Würden Sie den Job bekommen? Solche automatisierten Gesichtsanalysen basierend auf Künstlicher Intelligenz sollen es Recruitern künftig erleichtern, schneller den perfekten Kandidaten zu finden. Wir haben uns angesehen, was sich hinter dem Lügendetektor 2.0 versteckt.
Vor allem durch Corona ist die Digitalisierung im Recruiting rasch zu einem sehr wichtigen Thema geworden. Insbesondere Video-Bewerbungsgespräche liegen stark im Trend und der Markt für Video-Interview-Plattformen boomt. Mit im Angebot sind automatische Gesichtsanalysen basierend auf Künstlicher Intelligenz. Doch gerade, wenn es darum geht, dass eine Maschine entscheidet, wer den Job bekommt, wird KI sehr kritisch betrachtet. Wissenschaft und Technik sind sich jedoch einig, dass eine Maschine sehr gut einschätzen kann, welcher Kandidat zum Unternehmen passt.
Der Lügendetektor 2.0 im Bewerbungsgespräch
Während Recruiter in einem Bewerbungsgespräch einen Blick auf Ihre Unterlagen werfen und womöglich kurz abgelenkt sind, bleibt die Maschine durchgehend auf den Kandidaten fixiert und konzentriert. Ihr entgeht nichts – weder ein verzogener Mundwinkel noch ein leichter Unterton. Insgesamt erfasst eine Software im Gespräch unglaubliche 25.000 Datenpunkte im Gesicht und der Sprache des Kandidaten und funktioniert damit besser als ein Lügendetektor. Die erfassten Messwerte werden mit einem „Gefühlskatalog“ mit über 10.000 gespeicherten Gesichtsausdrücken abgeglichen. Danach bewertet der Algorithmus die Persönlichkeit des Bewerbers und vergleicht diese mit bereits eingestellten Mitarbeitern des Unternehmens. So entscheidet die Maschine, ob ein Kandidat zum Unternehmen passt.
Wer bei "automatisierter Gesichtsanalyse im Video-Interview" Zukunftsmusik hört, wird überrascht sein: HireVue, einer der Marktführer in diesem Bereich, bietet bereits seit 16 Jahren Video-Interview-Plattformen basierend auf Künstlicher Intelligenz an. Mittlerweile gibt es weltweit immer mehr Start-Ups, die in diesen Millionen-Markt einsteigen und Recruiting-Prozesse revolutionieren wollen. Die Video-Interview-Plattformen bieten HR-Managern unterschiedliche Möglichkeiten zur Interviewführung. Neben herkömmlichen Live-Interviews, können auch „On Demand“-Videos zur Verfügung gestellt werden. Dabei handelt es sich um ein strukturiertes Video-Interview mit vordefinierten Fragen. Diese Art des Bewerbungsgesprächs kann online jederzeit vom Kandidaten aufgerufen und durchgeführt werden, denn durchs Gespräch führt die Maschine. Nach jeder gestellten Frage hat der Kandidat kurz Zeit sich auf seine Antwort vorzubereiten. Auch kleine Aufgaben und Test können in diesem Interview integriert werden. HR-Manager und Recruiter können sich die Videos anschließend jederzeit ansehen und auch untereinander teilen. Diese „On Demand“-Videos werden vorzugsweise bei Erstgesprächen eingesetzt, da die Software eine hohe Anzahl an Bewerbern prüfen kann und danach einen breiten Pool an passenden Kandidaten zusammenstellt.
So erleichtert KI das Recruiting-Leben!
Besonders große Unternehmen, wie beispielsweise Unilever, setzen bereits seit längerem auf Video-Plattformen. Bewerbungsgespräche können dadurch wesentlich effizienter und vor allem häufiger als bisher abgehalten werden. Denn die Maschine arbeitet 24 Stunden am Tag und gleicht die Profile der Bewerber schneller und genauer mit den Anforderungsprofilen der offenen Stellen ab. Durch den größeren Kandidatenpool erhöht sich auch die Chance Jobs schneller zu besetzen. Denn Recuriter beschäftigen sich nur noch mit jenen Kandidaten, welche bereits von der Software als passend bewertet wurden. Auch auf Kandidatenseite haben solche Video-Interviews viele Vorteile. Insbesondere gewinnen Bewerber durch die Online-Abwicklung mehr Flexibilität und können lange Anreisen oder Urlaubstage sparen. Introvertierte oder nervöse Kandidaten profitieren auch von der kurzen Vorbereitungszeit nach jeder gestellten Frage im „On Demand“ Interview, bevor sie aufgezeichnet werden. Dementsprechend gibt man allen Bewerbern die gleiche Voraussetzung und Chance in die nächste Runde zu kommen. Durch das Einsetzen von künstlicher Intelligenz sollen so subjektive Vorurteile ausgeschlossen werden und alle Bewerber eine faire Chance im Bewerbungsprozess bekommen.
Wie fair ist die Maschine tatsächlich?
Doch gerade die Objektivität und Fairness von Algorithmen wird von Kritikern in Frage gestellt. Denn die eingesetzten Algorithmen greifen auf Daten bisheriger Einsteillungen zurück, welche manchmal auf subjektiven Entscheidungen beruhen. Das heißt, wenn von einem Unternehmen in den vergangenen Jahren bevorzugt Männer eines bestimmten Alters eingestellt wurden, wird sich auch der Algorithmus vermehrt für männliche Bewerber mit ähnlichem Alter entscheiden, da diese Bewerberprofile besser mit den bereits bestehenden Profilen übereinstimmen. Eine weitere Schwachstelle ist das Messen von emotionaler Intelligenz. Gerade bei Führungspositionen haben emotionale Kompetenzen einen entscheidenden Einfluss auf das Arbeitsklima und die Leistungsfähigkeit des Teams. Eine derartige Kompetenz lässt sich derzeit maschinell nur schwer messen. Das zeigt, dass Künstliche Intelligenz zwar einige Prozesse im Recruiting vereinfachen und optimieren kann, aber sie derzeit noch nicht vollständig übernehmen kann.
Ein Blick in die Zukunft
Vorerst übernimmt die Künstliche Intelligenz noch nicht den kompletten Einstellungsprozess. Doch mit fortschreitendem Einsatz im Bewerbungsprozess können Algorithmen weiterentwickelt und verbessert werden. So kann es sein, dass bei niedrig-qualifizierten Jobs schon bald eine Maschine über die Einstellung des Bewerbers entscheidet. Für HR-Manager und Recruiter gilt schon jetzt: Wer den Umgang mit neuen Technologien nicht scheut, hat die Möglichkeit aus dem vollen Potenzial der Automatisierung und Digitalisierung zu schöpfen. Durch die Abgabe von wiederkehrenden Arbeitsschritten an eine Software, können freie Ressourcen für neue und aufwändigere Projekte eingesetzt werden!
Quellen:
https://www.queb.org/blog/video-interviews-im-recruiting-interview-mit-clemens-aichholzer-hirevue/
https://www.handelszeitung.ch/management/wenn-kuenstliche-intelligenz-ueber-die-bewerbung-richtet-1510111
https://www.washingtonpost.com/technology/2019/10/22/ai-hiring-face-scanning-algorithm-increasingly-decides-whether-you-deserve-job/